Kafkas Werk, so heißt es immer wieder, erfreue sich bis heute großer Beliebtheit, weil es menschliche Grunderfahrungen zum Thema habe. Doch muss man mit Blick auf den sozialen Status seiner Protagonisten fragen: Wie allgemeinmenschlich sind die Texte, die doch von Prekarisierung, unwürdigen Arbeitsverhältnissen und Abstiegsängsten handeln?
Theodor W. Adorno hat zumindest Zweifel daran angemeldet, dass es Kafka vornehmlich um die Verhandlung überzeitlicher Themen und Konflikte (wie Vater-Sohn-Beziehungen, die Absurdität der menschlichen Existenz oder das Gefühl individueller Ohnmacht) geht:
„Sein Werk hat den Ton des Ultralinken: wer es aufs allgemein Menschliche nivelliert, verfälscht ihn bereits konformistisch.“ (Adorno 1977: 274)
Nun scheint die Sorge des Philosophen aus heutiger Sicht unbegründet. Gewiss wird Kafkas Prosa auch heute noch (wie zuletzt im Rahmen des Jubiläumsjahres 2024) in Anspruch genommen als Sinnbild für „fundamentale menschliche […] Erfahrungen, die über Grenzen von Epochen und Kulturen hinweg wiedererkannt und verstanden werden“ – Konsens ist aber auch, dass seine Texte eine „unzweifelhaft moderne Welt“ (Stach 2024) zum Thema haben: Unsterblich ist Kafka geworden, weil „er es irgendwie geschafft hat, Geschichten so zu erzählen, dass sie dem Gefühl des modernen Menschen entsprechen“ (von Cranach 2024).
Mit dem Verweis auf die Moderne ist eine historische Kontextualisierung der Texte geleistet. Aber was ist mit der sozio-historischen Perspektive, die sich aus seinen Figuren und Themen ergibt? Mit Adorno ist zu fragen, ob die Einordnung von Kafkas Werk als ‚modern‘ nicht ebenso auf Verallgemeinerungen beruht und den Mythos einer absurden, undurchsichtigen, eben kafkaesken Moderne, die alle Menschen gleichermaßen (be)trifft, fortschreibt. Möchte man Adornos Impuls also folgen und in Kafka einen ‚ultralinken‘ Autor sehen, dessen Schreiben nicht auf das Allgemeinmenschliche zielt, so ist zu fragen: Welche Erfahrungen bringen Kafkas Texte konkret zur Sprache?
Abstiegsgeschichten
In einer durch Adorno geleiteten Re-Lektüre von Kafkas Prosa (für den Anfang möchte ich mich auf die Romanfragmente beschränken) ist zunächst danach zu fragen, ob sich die Protagonisten im Hinblick auf ihre Klassenzugehörigkeit bestimmen lassen. Dazu hat die in Vergessenheit geratene sozialgeschichtliche Kafka-Forschung der 1970er und 1980er Jahre bereits herausgearbeitet, dass sich Kafka „wie kein zweiter Schriftsteller“ mit der „Situation der arbeitenden Menschen“, der „Arbeiter, Angestellten und Beamten in der modernen, bürgerlich-kapitalistischen Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts“ (Jahnke 1988: 222), literarisch auseinandergesetzt hat. Was haben seine Texte über Klasse und Arbeit zu sagen?
Josef K. in Der Proceß (postum 1925) ist Prokurist in einer Bank. Mit Anfang 30 ist seine Karriere gerade „im Aufstieg“ (Kafka 1990: 116) begriffen. Seine beruflichen Ambitionen werden jedoch durch den Prozess, der gegen ihn eingeleitet wird, allmählich zunichte gemacht. Das Gerichtsverfahren nimmt immer mehr Zeit und Energie des Protagonisten in Anspruch, sodass er in der Folge an Erschöpfung leidet und gegenüber seinem größten beruflichen Konkurrenten in Nachteil gerät:
„Jede Stunde, die er dem Bureau entzogen wurde[,] machte ihm Kummer […]. Er glaubte dann zu sehn, wie der Direktor-Stellvertreter, der ja immer auf der Lauer gewesen war, von Zeit zu Zeit in sein Bureau kam, sich an seinen Schreibtisch setzte, seine Schriftstücke durchsuchte, Parteien, mit denen K. seit Jahren fast befreundet gewesen war, empfieng und ihm abspenstig machte, ja vielleicht sogar Fehler aufdeckte, von denen sich K. während der Arbeit jetzt immer aus tausend Richtungen bedroht sah und die er nicht mehr vermeiden konnte.“ (Kafka 1990: 182)
Kafka schildert eine Arbeitswelt, in der ein ehrgeiziger Arbeitnehmer einem enormen Konkurrenzdruck ausgesetzt ist – eine Welt, die von ihm Verfügbarkeit und Engagement bis ins Private einfordert und ihn umgehend für Ablenkungen bestraft, die durch „persönliche Schwierigkeiten“ (Kafka 1990: 127) entstehen. In diesem System ist niemand unabkömmlich, weil sich der Andere immer schon „auf der Lauer“ befindet, um die mit Mühe erreichte Position einzunehmen.
Während der soziale Abstieg in Der Proceß eine Drohkulisse darstellt, den Josef K. jedoch nicht mehr erlebt, wird dieser in Der Verschollene (postum 1927) auserzählt. Karl Roßmann kommt aus einer privilegierten Familie, die Dienstboten unterhält. Er wird jedoch gezwungen, seine Heimat zu verlassen und nach Amerika auszuwandern, weil er ein Dienstmädchen geschwängert hat.
Wie Josef K. hat auch Karl das kapitalistische Aufstiegsversprechen internalisiert und möchte im Land der unbegrenzten Möglichkeiten unbedingt „vorwärtskommen“ (Kafka 1983: 143). Die Sterne dafür stehen zunächst auch günstig. Karl trifft bei der Ankunft im New Yorker Hafen unverhofft auf seinen wohlhabenden Onkel, einen Geschäftsmann, der es bis zum Senator gebracht hat. Dieser nimmt sich des Neuankömmlings an und unterwirft ihn einem strengen Regime aus Sprachunterricht und Leibesübungen, das Karl amerikatüchtig machen soll.
Doch schon bald sieht sich der 17-Jährige von seinem Mentor verstoßen und muss von vorn anfangen: Er findet eine Anstellung als Liftboy (Vorsicht Fahrstuhlmetapher!), die er äußerst pflichtbewusst erfüllt, allerdings schnell wieder verliert. In der Folge gerät Karl über die Landstreicher Robinson und Delamarche in ein Dienst- und Ausbeutungsverhältnis bei der Sängerin Brunelda, gegen das er sich zunächst wehrt, mit dem er sich dann aber arrangieren muss. Und wer kann es ihm verübeln? Armut und Elend sind in dem Roman allgegenwärtig, so in der Binnenerzählung über die Mutter von Therese, einer jungen Schreibkraft in dem Hotel, in dem Karl als Liftboy arbeitet. Thereses Mutter ist Bauhilfsarbeiterin und stürzt vor Entkräftung von einem Baugerüst in den Tod – oder begeht doch aus Verzweiflung über Hunger und Obdachlosigkeit Selbstmord?
Bei K., dem Protagonisten aus dem Schloß (postum 1926), bleibt unklar, ob es sich tatsächlich um einen Landvermesser oder doch einen Vagabunden handelt, der im übertragenen Sinne ‚Land vermisst‘. Auf jeden Fall werden K. bei seiner Ankunft „Landstreichermanieren“ (Kafka 1994: 8) attestiert. An anderer Stelle erwähnt der Protagonist selbst seine „vollständige Vermögenslosigkeit“ und „Unmöglichkeit, jetzt wieder eine andere entsprechende Arbeit zu Hause zu finden“ (Kafka 1994: 74). Der älteren, sozialgeschichtlich sensiblen Kafka-Forschung gilt K. deshalb als „Lumpenproletarier“ (Keller 1977: 58) auf der Suche nach einem Arbeitsplatz und Unterkunft.
Ein Schlusskapitel zum Schloß hat Kafka nicht verfasst, soll seinem Freund und dem späteren Herausgeber seiner Werke Max Brod jedoch mitgeteilt haben, dass der Landvermesser „wenigstens teilweise Genugtuung“ erhalten wird:
„Er läßt in seinem Kampfe nicht nach, stirbt aber vor Entkräftung. Um sein Sterbebett versammelt sich die Gemeinde, und vom Schloß langt eben die Entscheidung herab, daß zwar ein Rechtsanspruch K.s, im Dorfe zu wohnen, nicht bestand – daß man ihm aber doch mit Rücksicht auf gewisse Nebenumstände gestatte, hier zu leben und zu arbeiten.“ (Kafka nach Brod 1994: 347; Hervorhebung I. H.)
Demütigung, soziale Scham und Resignation
Erzählt werden in den Romanfragmenten Abstiegs- und gescheiterte Aufstiegsgeschichten, wobei sich die Texte für Erfahrungen der sozialen Deklassierung, Demütigung und Scham interessieren. Der Proceß endet mit der Hinrichtung von Josef K. Er wird von zwei Handlangern des Gerichts am Steinbruch erwürgt: „‚Wie ein Hund!‘ sagte […] [Josef K.], es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ (Kafka 1990: 211)
Dem schambesetzten Tod geht ein Leben voller Demütigungen voraus: Kafkas Protagonisten finden sich unfreiwillig in ärmlichen Räumen (Kammern, Vorzimmern, Dachböden) wieder, wo sie zum Umgang mit anderen Absteigern, proletarischen Unterschichten und diversen subalternen Figuren gezwungen sind. Selbst längst zu Parias geworden, sind die Protagonisten jedoch bemüht, den Abstand zu wahren, ihre soziale Identität aufrechtzuerhalten und sich der eigenen Überlegenheit zu vergewissern:
„Wenn er zuhause bliebe und sein gewohntes Leben führen würde, war er jedem dieser Leute tausendfach überlegen und konnte jeden mit einem Fußtritt von seinem Wege räumen.“ (Kafka 1990: 60)
Die Texte geben den Klassismus der Protagonisten wieder, lassen den Abstand zwischen diesen und den anderen prekären Figuren aber zunehmend schwinden – vielleicht war er auch gar nicht so groß. Die Protagonisten sind abgestoßen von der Genügsamkeit und Ergebenheit, denen sie in prekären Lebensverhältnissen begegnen. Karl Roßmann appelliert an den um seinen Lohn geprellten Heizer: „Du mußt Dich aber zur Wehr setzen, ja und nein sagen, sonst haben die Leute keine Ahnung von der Wahrheit“ (Kafka 1983: 49). Doch schon bald muss auch Karl Roßmann solche Demütigungen über sich ergehen lassen, denen er keinen Widerstand mehr, sondern nur noch mehr „Diensteifer“ (Kafka 1983: 359) entgegenzusetzen weiß.
Moderne Macht und ihre sozialen Adressaten
Kafka ist ein Meister darin, Macht in ihren Verfahren und Wirkungen zu erzählen. In seinen Texten sind die Individuen nicht nur „die unbewegliche und bewußte Zielscheibe dieser Macht, sie sind stets [auch] ihre Verbindungselemente“ (Foucault 1978: 82). Sie werden adressiert und antworten dem Ruf der Macht, indem sie nach anfänglichem Widerwillen beginnen zu kooperieren und ihren Willen als kompatibel mit den Ansprüchen der Herrschenden erkennen.
Diese Machtverhältnisse im Sinne des Allgemeinmenschlichen als eine Grunderfahrung der Moderne zu reklamieren, bedeutet auszublenden, dass die Auslieferung an Institutionen und Personen bei Kafka vor allem die Angepassten, Tüchtigen und Ambitionierten trifft und deren soziale Deklassierung einläutet. Es sind Figuren mit Aufstiegswillen und Arbeitseifer, denen unverhofft der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Schließlich sind diese in ihrer Leistungsbereitschaft, Autoritätsorientierung und sozialen Bindungslosigkeit besonders anfällig für die Funktionsweisen moderner Macht.
Die Protagonisten in Kafkas Texten werden weder mit Klassenbewusstsein ausgestattet noch erfahren sie Solidarität von Gleichgesinnten. Dabei spiegelt dieses Verfahren der Individualisierung die soziale Isolation und Einsamkeit der (kleinbürgerlichen) Angestellten und prekär beschäftigten Menschen wider. Auf deren Vereinzelung kann die Macht der Bürokratie, des Gerichts, des Patriarchen etc. aufbauen:
„‚Im allgemeinen verkehren sie [die Angeklagten] nicht miteinander‘, sagte der Kaufmann, ‚das wäre nicht möglich, es sind ja so viele. Es gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum. Gemeinsam läßt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall wird für sich untersucht, es ist ja das sorgfältigste Gericht. Gemeinsam kann man also nichts durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmal etwas im geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren es die anderen; keiner weiß, wie es geschehen ist. Es gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da in den Wartezimmern zusammen, aber dort wird wenig besprochen.‘“ (Kafka 1990: 160)
Das Gericht setzt auf Isolierung der Angeklagten, weil das Individuum gegenüber dem System weniger Handlungsmacht hat als die Gruppe. Vor allem aber zeigen die obigen Ausführungen des Kaufmanns Block aus Der Proceß, dass die institutionelle Macht auf der Verinnerlichung des individualistischen Leistungscredos gründet. Aus dem individuellen Zugriff auf die Angeklagten schließt Block auf die Individualität der Fälle – und übersieht dabei, was die Texte vorführen: Die Figuren sind spiegelbildlich angelegt, geben unterschiedliche Stadien der prekären Existenz wieder, vereint in der Scham und Isolation.
Eine klassenanalytische Perspektive führt vor Augen, dass die Protagonisten in Kafkas Romanfragmenten sozialhistorisch spezifische Erfahrungen von Arbeit, sozialem Abstieg und Entsolidarisierung machen. ‚Ultralinks‘ an Kafkas Texten ist aber auch der Umstand, dass sie die Perspektive der Abgekämpften und Parias einnehmen und deren Niedergang empathisch begleiten, ihrer Identifikation mit der Macht und dem kapitalistischen System jedoch kritisch-ironisch gegenüberstehen.
Literaturverzeichnis
Adorno, Theodor W.: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. Ohne Leitbild. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1977, 254–287.
Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978.
Jahnke, Uwe: Die Erfahrung von Entfremdung. Sozialgeschichtliche Studien zum Werk Franz Kafkas. Stuttgart 1988.
Kafka, Franz: Der Verschollene [1927]. In: Franz Kafka. Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 2.1. Hg. von Jost Schillemeit. New York 1983.
Kafka, Franz: Das Schloss. Roman [1926]. Hg. von Max Brod. Frankfurt a. M. 1994.
Kafka, Franz: Der Proceß. Roman [1925]. Stuttgart 1990.
Keller, Karin: Gesellschaft in mythischem Bann. Studien zum Roman „Das Schloß“ und anderen Werken Franz Kafkas. Wiesbaden 1977.
Stach, Rainer: Kafka im 21. Jahrhundert. In: Goethe-Institut Russland (01/2024), https://www.goethe.de/ins/ru/de/kul/mag/25685755.html (01.06.2025).
Von Cranach, Xaver: Der Kafka-Kult. In: Der Spiegel (02.06.2024), https://www.spiegel.de/kultur/literatur/franz-kafka-zum-100-todestag-des-schriftstellers-der-kafka-kult-a-2d1fdc8c-3d72-42f6-8af8-a739c6071586 (01.06.2025).
Vorgeschlagene Zitierweise:
Husser, Irene: Kafka, der „Ultralinke“? Klasse und Arbeit in den Romanfragmenten. In: moment-mal-ndl/Blog (30.06.2025), moment-mal-ndl.de/kafka-der-ultralinke-prekaritaet-in-den-romanfragmenten (Abrufdatum).