Abb. 1: Michelangelo Merisi Caravaggio, Der Lautenspieler (Il sunoatore di liute), Eremitage-Version (ca. 1596).
Musikalische Dinge entwickeln in Texten von Novalis und Sophie Mereau eine eigene Handlungsmacht in den Bildungsprozessen der Protagonist:innen. Sie öffnen mit ihren Tönen nicht nur die Herzen, sondern auch die Geschlechtergrenzen.
Sophie Mereaus Erzählung Marie, erschienen 1798 in der „Teutschlands Töchtern“ geweihten Zeitschrift Flora, und Novalis’ fragmentarischer Roman Heinrich von Ofterdingen (erschienen posthum 1801) können bei aller Unterschiedlichkeit als Reaktionen auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre verstanden werden. Beide Texte geben eine Antwort auf Goethes ökonomische und bürgerliche ‚Prosaisierung‘ des Romanhelden, indem sie Bildungswege zu gelingenden künstlerischen Existenzformen erzählen – und dabei ‚musikalische Dinge‘ ins Zentrum setzen.
Der Blick auf die Dinge mag gerade für die Bildungsgeschichten um 1800 zunächst einmal irritieren, sind diese doch um die Bildungsprozesse der menschlichen Protagonist:innen zentriert. Es lohnt sich aber, deren Interaktion mit den musikalischen Dingen zu folgen, ihren semiotischen und narrativen Dynamiken und nicht zuletzt ihrer geschlechtlichen Codierung. Aus literarischen, aber auch realweltlichen Traditionen heraus sind die musikalischen Dinge als gendered objects zu verstehen (Hoffmann 1991, Grotjahn u. a. 2018). Folgt man jedoch ihrer textuellen Funktion, so lässt sich diese Perspektive aber auch umkehren. Sichtbar wird dann ein gendering – im Aktiv –, das von den Objekten ausgeht und die mit ihnen hantierenden Subjekte verändert. Die Effekte scheinen ähnlich wie bei Caravaggio (Abb. 1): Blickt uns hier ein Lautenspieler an, wie der (nachträglich hinzugefügte) Titel sagt, oder nicht doch eine Lautenspielerin?
Schwert oder Laute? (Novalis)
Irgendwo zwischen Eisenach und Augsburg, ca. 1200: Ein reisender Jüngling auf der Suche nach sich selbst gerät unter die Kreuzritter. Bei deren Gelage wird der nachmalige Minnesänger Heinrich von Ofterdingen – so erzählt es Novalis – von martialischen Affekten angesteckt. Diese richten sich gerade nicht auf ein musikalisches, sondern auf ein militärisches Ding, nämlich ein kostbares Schwert, das der Schlossherr auf dem vergangenen Kreuzzug erbeutet hat, nachdem er seinen Besitzer getötet und die Familie versklavt hat. Der von dieser Gewaltgeschichte geprägte Gegenstand entwickelt eine eigentümliche, fast schon libidinöse Anziehung:
„Alle besahen das prächtige Schwert, auch Heinrich nahm es in seine Hand und fühlte sich von einer kriegerischen Begeisterung ergriffen. Er küsste es mit inbrünstiger Andacht. […] Der Alte umarmte ihn und munterte ihn auf, auch seine Hand auf ewig der Befreiung des Heiligen Grabes zu widmen […]. Er war überrascht, und seine Hand schien sich nicht von dem Schwerte losmachen zu können.“ (Novalis 1960: 231)
Die Gewaltphantasien der Kreuzritter werden im Text allerdings schnell ins rechte Licht gestellt und als der eindeutig falsche Bildungsweg markiert. Nicht zufällig ist es Heinrichs Mutter, also eine weibliche Figur, die Heinrich der Reizüberflutung martialischer Männlichkeit entzieht und ihn ins Freie entlässt. Außerhalb des Schlosses betritt er einen romantischen Naturraum, blickt in unabsehliche Fernen und Tiefen, und sogleich zentriert sich die Narration um ein anderes, diesmal musikalisches Ding, das nicht umsonst zunächst in Gefühl und Einbildungskraft des Protagonisten auftaucht. Heinrich fühlt, „daß ihm eine Laute mangelte, so wenig er auch wusste, wie sie eigentlich gebaut sei und welche Wirkung sie hervorbringe“ (Novalis 1960: 234). Das ersehnte Objekt lässt nicht lange auf sich warten. Es erklingt: „aus einer nahen Tiefe ein zarter eindringender Gesang einer weiblichen Stimme, von wunderbaren Tönen begleitet […]. Es war ihm gewiss, dass es eine Laute sei.“ (Novalis 1960: 234)
Die vom Schlossherrn verschleppte Zulima singt von ihrer verlorenen Heimat als einem paradiesischen Ort, an dem aber nicht nur Milch und Honig fließen, sondern vor allem auch „[z]ärtliche Gesänge“ (Novalis 1802/1960, 235) erklingen, der also als Ort der Kultur markiert ist. Zwar handelt es sich auch hierbei um eine aus heutiger Sicht nicht unproblematische, weil tendenziell exotisierende Szene. Festzuhalten ist aber auch die deutliche Ablehnung des brutalen Orientalismus der Kreuzritter – und die Wendung zur um 1800 ebenso wirkmächtigen sprachhistorischen und geschichtsphilosophischen Vorstellung vom ‚Orient‘ als kultureller Wiege der Menschheit und der Dichtung (vgl. Polaschegg 2005, Prager 2014). Diese konnte Novalis etwa bei Herder oder auch beim Sanskrit-Forscher Friedrich Schlegel nachlesen, der dazu aufrief, im „Orient das höchst Romantische zu suchen!“ (Schlegel 1988: 205) In Zulimas Laute, einem Instrument aus der arabischen Kultur, das Europa erst im Mittelalter erreichte (vgl. Pfäffgen 2016), materialisiert sich so das Bildungsziel, dem der Held entgegengeführt wird, nämlich zum romantischen Dichter zu werden. So beiläufig wie signifikant vermeldet der Text dann: „Heinrich trug die Laute“ (Novalis 1960: 238) – und damit die romantische Poesie.
Ganz offensichtlich befindet sich Heinrich in diesem Kapitel im Bann der Dinge,1 ihrer tradierten Konnotationen und nicht zuletzt ihres Genderings. Der martialischen Männlichkeit des Schwerts entkommt er mit Hilfe von Frauenfiguren, die ihn der Sehnsucht nach der Laute folgen lassen. Diese verkörpert den ‚poetischen Orient‘ ebenso wie die Weiblichkeit, und sie trägt nicht zuletzt, auch dies im Kontrast zum Schwert, seit jeher die emblematische Bedeutung des Bündnisses – und ein solches suggeriert der Roman zwischen arabischer und romantischer Poesie. Wenn Heinrich aus Zulimas Händen die Laute erhält, so ist dies also alles andere als eine neutrale Gabe. Sein Dichtertum verdankt sich einer Übertragung, rhetorisch formuliert einer Metonymie: Der Kontakt mit dem Instrument lässt die in ihm durch Herkunft und Besitzerin gleichsam gespeicherten ‚orientalischen‘ und ‚weiblichen‘, jedenfalls aber poetischen Energien auf ihn übergehen. Daraus resultiert auch eine geschlechtliche Verunklarung des Protagonisten,22 die er aber nicht selbst aktiv betreibt, sondern mit der ihn das musikalische Ding gleichsam affiziert: als zugleich gendered und gendering object.
Süße Gewalt und eigenmächtiges Handeln (Mereau)
Vermutlich Mitteldeutschland, spätes 18. Jahrhundert: Ein junges Mädchen hat „bei sich beschlossen, sich eigenmächtig in den Besitz“ eines „Geheimnißes zu setzen“ (Mereau 1798: 52). Gemeint ist das Geheimnis der Musik, und die Eigenmächtigkeit wird darin bestehen, dass die Titelheldin von Sophie Mereaus Marie kurzerhand eine Laute aus dem Fundus ihres Vaters Anton entwendet. Dieser hat seine Musikinstrumente „in einen öden Winkel seines Hauses verwiesen, wo er sie nur zuweilen, mit mitleidigem Lächeln, als die Monumente seiner ehemaligen Träume und großen Erwartungen betrachtete“ (Mereau 1798: 42). Seine Tochter unterzieht er einem rousseauistischen Erziehungsprogramm – naturnah, aber kunstfern. Entsprechend verbirgt Anton die Musikinstrumente vor Marie, „damit nicht vielleicht durch sie, irgendein schlummernder Trieb in ihrem Herzen geweckt werden möchte“ (Mereau 1798: 44).
So fließt Maries Leben einigermaßen ereignislos dahin – bis ein Kutschenunfall Anton und Marie mit der mondänen Antonie und dem sie begleitenden Musiker Brandem bekannt macht. Als dieser „den Verlust einer schönen Viole d’Amour“ durch den Unfall beklagt, kann sich Anton „nicht enthalten, […] zu der geheimnißvollen Kiste zu gehen, und aus seinem verstekten Schatze ein ähnliches Instrument hervor zu holen“ (Mereau 1798: 50). Die folgende Musikszene wird für Marie zum ästhetischen Ereignis. Die zwar versteckte, aber immer spielbereit gehaltene Viola d’amore erwacht aus dem Dornröschenschlaf und entwickelt sogleich eine eigene agency, die Maries Bildungstrieb, aber auch ihre Phantasie und ihre Sehnsucht aktiviert:
„Marie war in eine andere Welt versezt. Diese ersten harmonievollen Töne durchschauderten ihre Seele mit wunderbaren, nie gefühlten Anklängen, und die ersten Stralen der Kunst wekten mit süßer Gewalt ihren schlummernden Bildungstrieb.“ (Mereau 1798: 50)
Der folgende Lautendiebstahl verwundert so nicht. Er mündet in eine weitere Musikszene, in der Marie nun selbst musikalisch tätig wird. Wie bei Heinrich geht es zunächst ins Freie:
„Alles glükte, und Marie flüchtete mit einer da gefundenen Laute in ein dichtes nicht fern gelegenes Gehölz, wo sie ahndungsvoll unbekannte seelige Genüße zu finden hofte. Hier suchte sie sich eine der romantischsten, einsamsten Stellen der Gegend aus. An dem hohen etwas steilen Ufer eines lebendigen, klaren Gewässers strekte sich sanft ein kleiner bemooster Hügel hin, den eine Gruppe von dunkeln Bäumen umgab, und vor neugierigen Bliken wie vor Sonnenstralen verbarg. Ein dichtes Gebüsch, begränzte an der einen Seite den schnell gewandten Fluß, und eine weite Aussicht auf der andern verstattete der Einbildungskraft das freiste Spiel. Der Fluß strömte heiter, als eilte er den Umarmungen einer Geliebten entgegen, dem Ufer zu, aber spröde, gefühllose Klippen stiessen ihn zurük, und zürnend mit sanftem Geräusch wallte er seitwärts.“ (Mereau 1798: 52–53)
Die Raumsemantik spricht eine deutliche Sprache: Es handelt sich einerseits um einen Naturort, der aber andererseits kulturell überformt ist, nämlich als romantisierter locus amoenus. Zudem wird der Ort nicht nur durch die von der Figur erhofften „Genüße“, sondern auch durch den Vergleich des strömenden Flusses mit einem Liebenden erotisiert. Durch dieses raumsemantische Bündel einer „landscape of musical eroticism“ (Purdy 2018: 156) wird auch die folgende musikpraktische Initiation der Figur als ‚romantisch‘ codiert:
„Hier war es, wo sich Marie verbarg, wo ihre Finger zum erstenmale die Saiten durchirrten, und mit ungewißen Versuchen jene geliebten, ihr stets gegenwärtigen Töne nachzubilden strebten. Nach einiger Bemühung gelang es ihr, eine unvollkommne Ähnlichkeit hervorzubringen, und sie vermählte bald die ungewißen Accente ihrer biegsamen Stimme mit den Tönen der Laute. Welche Wollust, welcher nie beschriebene Genuß lag in diesen Momenten! – das erwachte, zum erstenmal sich übende Talent ahndete mit süßem Schauer sein eigenes Daseyn; seine kindliche Unerfahrenheit verbarg ihm die Gränzen der Kunst, und es betrat mit kühnem Schritt den Weg ins Unendliche!“ (Mereau 1798: 53)
Auch für Marie wird das musikalische Ding zum Initiator des Bildungsprozesses. Sie beginnt eine durchaus romantische, nämlich ins „Unendliche“ weisende ‚Übung‘. Deren Beschreibung in erotischer Metaphorik – Laute und Stimme ‚vermählen‘ sich – kündigt die im weiteren Verlauf der Erzählung berichtete doppelte, nämlich sowohl erotische als auch künstlerische Selbstbildung an: Marie verlässt das Dorf, probiert einen Liebhaber aus, trennt sich und wird am Schluss mit, wie es heißt, „sanfter Selbständigkeit“ (Mereau 1798: 102) Schauspielerin. Dass sie dann auch noch den richtigen Mann, nämlich den Musiker Brandem, bekommt, ist in der Logik der Erzählung nice to have, aber auch nicht unbedingt erforderlich.
Und das Gendering? Auf den ersten Blick scheint in der Geselligkeit von weiblicher Figur und ‚weiblichem‘ Instrument alles in bester Ordnung zu sein. Die Laute verstärkt und stereotypisiert als gendered object Maries Weiblichkeit, indem sie die geradezu obsessiv beschworene seelische Harmonie der Hauptfigur noch einmal ins Bild setzt. Der zweite Blick macht dann allerdings alles komplizierter, und das gleich mehrfach. Zum einen ist die Laute hier ein väterliches Erbe, das Marie sich zwar zunächst gegen den Willen, später aber mit dem Segen des Vaters aneignet. Das Lautenspiel ist keine Ruptur, wohl aber eine Korrektur der väterlichen Ordnung. Zum anderen initiiert das Lautenspiel einen Lebensweg, der in der zeitgenössischen Wirklichkeit Männern vorbehalten war. Maries erotische und künstlerische Selbstbildung ist eine Grenzüberschreitung. Weibliches Musizieren und künstlerische Tätigkeit sind in der bürgerlichen Geschlechterordnung ebenso erwünscht wie auf den privaten Innenraum beschränkt und ganz sicher von vor- und außerehelicher Liebe fernzuhalten. Aus der auffälligen Selbstgenügsamkeit von Maries Spiel auf und mit der Laute entfaltet die Erzählung eine Utopie weiblicher Selbstbestimmung. Der Text lässt die Laute ein doppeltes Spiel treiben, das – so das Paradox – aus der Affirmation der Geschlechterordnung ihre Überschreitung motiviert.3
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Was zeigen diese Lauten-Gaben, Lauten-Nahmen und Lauten-Spiele? Die musikalischen Dinge erzeugen in den Bildungsgeschichten von Mereau und Novalis offensichtlich narrative und semiotische Dynamiken, treiben die Geschichten voran, aber auch die Geschlechter in subtile Schattierungen. Freilich geschieht dies nicht katastrophisch, nicht polemisch oder revolutionär, sondern eher mit Effekten vielleicht auch nur momenthafter schillernder Unbestimmtheiten. Die Reihe der ästhetischen Versprechen, die man um 1800 mit der Musik verband, wäre also zu vervollständigen – um die Utopie einer wenn auch nur punktuellen und fiktionalen Erlösung von der bürgerlichen Geschlechterordnung.
Literaturverzeichnis
Grotjahn, Rebecca/Schauberger, Sarah/Imm, Johanna/Jaeschke, Nina (Hg.): Das Geschlecht musikalischer Dinge (=Jahrbuch Musik und Gender 11). Hildesheim/Zürich/New York 2018.
Hoffmann, Freia: Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur. Frankfurt a. M./Leipzig 1991.
Kuzniar, Alice: Hearing Woman’s Voice in ‚Heinrich von Ofterdingen‘. In: PMLA 107/5 (1992), 1196–1207.
Mereau, Sophie: Marie. In: Flora. Teutschlands Töchtern geweiht von Freunden und Freundinnen des schönen Geschlechts, Drittes Bändchen (1798), 41–103.
Novalis: Schriften. Bd. 1. Hg. von Paul Kluckhohn, Richard Samuel u. a. Stuttgart 1960.
Päffgen, Peter: Lauten. Die europäische Laute und Lautenmusik. Die europäische Laute vor 1500. In: Laurenz Lütteken (Hg.): MGG Online. New York/Kassel/Stuttgart 2016ff. (November 2016), https://www.mgg-online.com/mgg/stable/28974 (20.10.2025).
Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin/New York 2005.
Prager, Debra N.: Orienting the Self. The German Literary Encounter with the Eastern Other. Rochester, NY 2014.
Purdy, Daniel: Plucking the Strings of Desire: Abstraction and Sensuality in Sophie Mereau’s ‚Bildungsgeschichte‘. In: Katharina von Hammerstein/Katrin Horn (Hg.): Sophie Mereau. Verbindungslinien in Zeit und Raum. Heidelberg 2008, 144–161.
Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie. In: Friedrich Schlegel. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hg. von Hans Eichner. München u. a. 1967, 284–362.
Stadler, Ulrich: Die theuren Dinge. Studien zu Bunyan Jung-Stilling und Novalis. Bern 1980.
Weigel, Sigrid: Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weiblicher Schreibpraxis. In: Inge Stephan/dies.: Die verborgene Frau. Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Berlin 1983, 83–137.
Vorgeschlagene Zitierweise:
Schmidt, Florian: Gendering objects? Musikalische Dinge bei Sophie Mereau und Novalis In: moment-mal-ndl/Blog (05.12.2025), https://moment-mal-ndl.de/gendering-objectsmusikalische-dinge-bei-sophie-mereau-und-novalis/ (Abrufdatum).
DOI: https://doi.org/10.57754/FDAT.mpc8y-wfs91
Zu weiteren Blogbeiträgen des Autors
- Vgl. dazu auch Stadler 1980. ↩︎
- Vgl. dazu auch, allerdings nicht mit Blick auf die Mensch-Ding-Interaktion, sondern auf die weibliche Stimme, Kuzniar 1992. ↩︎
- Insofern wäre ein ‚schielender Blick‘ im Sinne Sigrid Weigels (1983) zu konstatieren. ↩︎