Abbildung 1: Szene aus Emilia Galotti im Gothaischen Hofkalender zum Nutzen und Vergnügen (1775)
Seit jeher sitzt Emilia als Repräsentantin des bürgerlichen Trauerspiels im Deutschunterricht. Von der anderen Seite des Schulfensters, jenseits des Kanons, schaut ihre Schwarze Schwester Cadige hinein und erklärt sich bereit, unser Bild des deutschen Dramas zu transformieren.
Das bürgerliche Trauerspiel ist eine literarische Gattung, die einen festen Platz im Lehrplan des Deutschunterrichts hat. Literaturgeschichtlich ist diese Gattung von Belang, weil ihr Wirkungskonzept im Unterschied zur Tragödie nicht auf die Bewunderung der Held:innen abzielt, sondern auf emotionale Identifikation mit den Figuren – auf Mitgefühl und Mitleid (vgl. Zöllner 1987: 179).
Von der Tragödientradition unterscheidet sich das Gattungskonzept auch dadurch, dass das bürgerliche Trauerspiel sich nicht auf die Darstellung von Personen gehobenen Standes wie König:innen und Adlige beschränkt. Auf der Bühne agieren stattdessen Figuren bürgerlicher Herkunft. Die sogenannte ‚Standesklausel’ wird aufgehoben und das bürgerliche Schicksal avanciert zum dramatischen Gegenstand. Das hat zur Folge, dass das bürgerliche Trauerspiel sich auf die private Sphäre konzentriert. Die tugendhafte Tochter, der zärtliche Vater und das tragische Ende – all dies prägt unser Bild vom bürgerlichen Trauerspiel und vielleicht auch vom Drama des 18. Jahrhunderts insgesamt, wenn wir von kanonischen Texten wie G. E. Lessings Miss Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1772) ausgehen. Was passiert nun, wenn das bürgerliche Trauerspiel sich globaler Stoffe annimmt? Wer betritt dann die Bühne? Welche Themen werden zur Verhandlung gestellt?
Eine Antwort auf diese Frage liefert das Stück Die Mohrinn zu Hamburg (1775),[1] das drei Jahre nach der Uraufführung von Lessings Emilia Galotti von dem Juristen Ernst Michael Lorenz Rathlef (1742–1791) verfasst wurde. Auch wenn das Drama paratextuell nicht als bürgerliches Trauerspiel ausgewiesen ist, vereinigt es doch unterschiedliche Merkmale der Gattung: Genretypisch bildet eine Liebesbeziehung den Ausgangspunkt der dramatischen Handlung. Der Jurist Gorden steht vor der Wahl zwischen den beiden Frauen Cadige und Emilia. Die letztere hat sein Kaufmannsvetter Wallmar für eine Profitheirat ausgesucht. Diese Konstellation ist von besonderer Brisanz: Während Emilia dem bürgerlichen Stand angehört, handelt es sich bei Cadige um eine Schwarze Frau, die aus der Sklaverei befreit wurde und europäische Bildung bekommen hat. Damit öffnet sich das Stück für eine Thematik, die in den kanonischen Theatertexten aus der Zeit selten zu finden ist.
Weibliche Tugend trifft Rassendiskurse
Wiederum genretypisch macht das Stück weibliche Tugend zum Thema. Die beiden Frauenfiguren betreten im ersten Akt noch nicht die Bühne, sondern werden von den männlichen Figuren – Gorden und Wallmar – in einem langen Dialog vorgestellt und beurteilt: mit Blick auf ihre äußere wie auch ihre innere Schönheit. Die Männer sind sich darüber einig, dass weder Cadige noch Emilia beide Ideale erfüllen. Für Wallmar ist Emilia aber die bessere Partie, weil es ihr, so argumentiert er, zwar an Klugheit fehlt, dieser Mangel aber durch ihre äußere Schönheit und ihren Reichtum ausgeglichen werden kann. Gorden hingegen hält Emilia für eine ungeeignete Braut, nicht nur, weil sie keinen Intellekt hat, sondern auch „keine Seele“ (Rathlef 1775: 14).
Komplexer fällt die Beurteilung Cadiges aus. Für Wallmar stellt ihre Hautfarbe einen Verstoß gegen das Schönheitsideal dar – „schwarz wie eine Raabe“ (Rathlef 1775: 14) sei sie, urteilt er abschätzig. Ferner zieht er aus ihrem Aussehen und ihrer Herkunft Schlussfolgerungen über Cadiges Temperament:
„Wenn man sie im December von Kopfe bis zu Füssen in die Elbe tauchte, so würde man das verbrannte Gehirn dieser Africannerin nicht kühlen […]. Ich glaube freylich, daß das Blut dieser Cadige mehr als zu heiß ist. Ich fürchte, daß sie sich noch ein Leid anthut, wenn sie nicht entweder die Eurige wird, oder wieder nach Guinea kommet.“ (Rathlef 1775: 19)
Implizit bezieht sich Wallmar hier auf zeitgenössische ‚Rassentheorien‘,[2] um Cadige als potentielle Braut zu disqualifizieren. Die Rede vom gekochten Blut stellte in der Rassentheorie im späten 18. Jahrhundert einen Gemeinplatz dar. Immanuel Kant griff beispielsweise auf die Annahme einer brennbaren Substanz im Blut zurück, das Phlogiston, und behauptete, diese sei der Grund für die dunkle Hautfarbe von Afrikaner:innen (vgl. Kant 1964: 81–82). Dem zeitgenössischen Rassendiskurs zufolge gehört Cadige zu einer Menschengruppe, die wegen ihrer Herkunft aus einer ‚heißen‘ Klimazone ‚verbrannt‘ ist und als verfallen gilt (vgl. Weiershausen 2018: 272). Ihr Temperament sei deswegen besonders ausgeprägt und gefährlich. Aus diesem Grund dürfe Cadige, so Wallmar, auf keinen Fall in die bürgerliche Familienwelt integriert werden.
Gorden folgt hingegen einer anderen Betrachtungsweise. Er schweigt über die Hautfarbe Cadiges und hält ihr Gesicht für schön, weil sich darin ihre Tugend ausdrückt: „Wie ihre Augen die Sprache der reinsten Seele sind, so giebt der Ton ihrer Lippen auch den Werth der edelsten Gedanken an, gleich wie das beste Metall seinen innern Gestalt durch den Klang anzeiget“ (Rathlef 1775: 18). Nicht die Körperlichkeit bestimmt das Temperament – im Gegenteil, die seelische Schönheit macht das Äußere schön. Gorden deutet ferner das Temperament Cadiges um. Wenn dieses von Enthusiasmus geprägt ist, ist dies ein Beweis für ihre Empfindungsfähigkeit:
„Lassen sie ihr diesen Enthusiasmus; er ist für die Tugend. Diese warmen Seelen sind allzeit für das eingenommen, was gut und schön ist“ (Rathlef 1775: 19).
Anders als Wallmar beruft sich Gorden auf das anthropologische Wissen der Empfindsamkeit. Im 18. Jahrhundert entsteht die Überzeugung, dass der Mensch u.a. auch ein emotionales Wesen ist. Danach entwickelt sich aus der Empfindungsfähigkeit des Menschen seine Moralfähigkeit sowie die Fähigkeit zum Mitgefühl, das dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zugrunde liegt. Cadige besitzt also eine Eigenschaft, die zentral für die bürgerliche Gefühlskultur ist, und stellt dementsprechend die perfekte Heiratspartie dar.
Die Heiratsthematik wird in Rathlefs Theaterstück also eng mit der Race-Thematik verknüpft, denn die Heiratswahl wird zu einem Schauplatz, auf dem zwei anthropologische Wissensformen – Rassentheorie und empfindsame Anthropologie – in Konkurrenz zueinander treten. Dabei stellt das bürgerliche Trauerspiel den Sieg der Empfindsamkeit sicher. Wer der Gattungslogik nach die richtige Heiratspartie ist, macht das Stück schon mit dem ersten Auftritt der beiden Frauen im zweiten Akt deutlich. Cadige ist zu Tränen gerührt, als sie erfährt, dass ihr Geliebter Zaduc, von dem sie durch die Verschleppung getrennt wurde, nun als versklavte Person mit einem spanischen Schiff in Hamburg angekommen ist. Aus diesem zärtlichen Gefühl heraus bittet sie Gorden, nach Zaduc zu suchen. Emilia hingegen verhöhnt bei ihrem ersten Auftritt eine Nachbarin für eine kleine gesellschaftliche Ungeschicklichkeit. Cadige wird also als die eigentlich mitleidige und empfindsam-tugendhafte Heldin des bürgerlichen Trauerspiels eingeführt, während Emilia mit einem untugendhaften Verhalten auftritt und somit als eine Figur gezeigt wird, die nicht in die Empfindsamkeitskultur passt.
Vom privaten zum öffentlichen Raum – Eine Menschenrechtsdebatte im bürgerlichen Trauerspiel
Die Figurenkonstellation wird durch den Handlungsstrang mit Gordens Suche nach Zaduc verkompliziert. Dieser Handlungsstrang verweist nicht nur auf die Rolle Hamburgs im transatlantischen Handelsdreieck (vgl. Tautz 2014: 283–286), sondern bedeutet auch einen Sprung im Schauplatz und in der Thematik: vom privaten Raum in den öffentlichen Raum, von der Liebesthematik zu zeitgenössischen Menschenrechtsdebatten. Gorden folgt der Spur von Zaduc zu einem Wirt, dessen Tochter in diesen verliebt war und aufgrund der unerwiderten Liebe gestorben ist. Der Wirt fragt Gorden, ob man Zaduc dafür vor Gericht stellen könnte. Als Gorden erklärt, dass Zaduc als versklavter Mensch gesetzlich „gar keine Person“ (Rathlef 1775: 87) sei und für den Tod eines Menschen nicht verantwortlich gemacht werden könne, erschrickt der Wirt:
„Bey Gott! Er ist doch ein Mensch. […] ich habe zwar nicht studiert, bin kein Geistlicher, aber, unter uns gesagt, was hilft alles Geplärr, alles Geziere, wenn wir keine Menschlichkeit haben?“ (Rathlef 1775: 88–89)
Mit der Figur des Wirtes nimmt das Drama eine zentrale Annahme der Aufklärung auf, nämlich die Universalität der Menschenrechte, und zeigt die Doppelmoral des europäischen Rechtssystems auf. Bei dem Wirt handelt es sich um eine aufgeklärte Laienfigur, die ihre Einwände gegen das geltende Recht nicht auf Basis des juristischen Wissens ihrer Zeit, sondern aus dem Gefühl der Menschenliebe äußert. Rathlefs Drama stellt damit die Menschenrechte, wie ein Jahr später in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung formuliert wird, als self-evident und als common sense dar, der keiner wissenschaftlichen Begründung bedarf.[3]
Der Wirt besteht ferner darauf, dass sich gute und böse Menschen in allen Menschengruppen finden und alle Menschen somit in ihren moralischen Anlagen ähnlich sind. Damit nimmt er eine Position gegen die Rassentheorie ein, nach der Schwarze Menschen einen unterlegenen Verstand hätten und deswegen moralisch unmündig und zur Sklaverei bestimmt seien. Mehr noch, das bürgerliche Trauerspiel Rathlefs nimmt eine abolitionistische Perspektive ein, besonders wenn Gorden die realhistorischen Orte des Sklavenhandels erwähnt: „Lieber Herr van der Twylen, eilen Sie nach Guinea, nach Madagascar, nach Barbados, und predigen Sie da wider dieses Gesetz“ (Rathlef 1775: 88).
Gorden kann Zaduc schließlich ausfindig machen und kauft ihn vom spanischen Schiffskapitän frei. Dabei gelingt es Gorden, den Kapitän zum Mitleid und Mitgefühl mit Zaduc zu bewegen. Das gattungsspezifische Wirkungsprinzip des Mitleids wird hier auf die zeitgenössische Debatte über die Abschaffung der Versklavung ausgeweitet.
Tragisches Ende und empfindsame Menschheitsgemeinschaft
Weil Gorden und Zaduc beide Cadige lieben, steht diese vor der Wahl zwischen zwei Männern. Mit einer Entscheidung würde sie einem der beiden Leid zufügen. Ihre Tugendhaftigkeit hält sich jedoch einen Ausweg aus dem Dilemma bereit: Sie wählt, wie ihre generische Schwester Emilia Galotti, den Freitod, und hinterlässt – so sagt sie im Sterben – die Freundschaft zwischen Gorden und Zaduc als Vermächtnis. Rathlefs Stück endet mit einer Freundschaft, die auf einer gemeinsamen Leiderfahrung gründet. Dieser Freundschaftstopos findet sich später auch in den abolitionistischen Dramen der 1780er Jahre (vgl. Köhler 2024: 60). Die empfindsame Freundschaft jenseits der Race-Differenz gilt als Beweis für die Empfindungsfähigkeit aller Menschen und setzt die zuvor eingeführte rassentheoretische Argumentation außer Kraft.
Die tragische Todesszene erlebt auch Emilia mit. Die Figur, die zuvor keinen Platz in der Empfindsamkeitskultur hatte, wird dadurch zu Tränen gerührt. Damit führt das Stück die Wirkungsabsicht des bürgerlichen Trauerspiels vor Augen: Gerührt vom Anblick der tugendhaften Cadige verwandelt sich Emilia nun selbst in einen tugendhaften Menschen und kann so endlich der empfindsamen Menschheitsgemeinschaft beitreten.
Zwar ist Die M****** zu Hamburg nicht frei von kolonialen Repräsentationslogiken, z.B. was die Darstellung eines weißen Mannes als Savior einer versklavten Person betrifft, im Hinblick auf die Gattungskonvention zeigt das Theaterstück aber ein anderes Bild des bürgerlichen Trauerspiels: Diese Dramengattung kennt sonst nur die private, weiße, bürgerliche Welt. Bei Rathlef werden Heiratsthematik und Mitleidsästhetik so rekodiert, dass sie für globale Themen wie Rassismus und Sklavenhandel anschlussfähig werden und es erlauben, diese kritisch zu behandeln. Anders als in Emilia Galotti, legen fast alle Figuren in Die M****** zu Hamburg Mitleid an den Tag, das sich nicht nur auf die nationale bürgerliche Welt, sondern auf eine globale Gemeinschaft bezieht.
Literatur
Kant, Immanuel: Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse [1785]. In: Immanuel Kant: Werke XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1964, 65–82.
Köhler, Sigrid G.: Black Revolution. Or: the Failure of Tragedy: Resistance and Slavery as Theme in Popular German-Language Theater (1775–1810). In: Priscilla Layne/Lily Tonger-Erk (Hg.): Staging Blackness: Representations of Race in German-Speaking Drama and Theater. Michigan 2024, 52-70.
Köhler, Sigrid G.: Alle Menschen sind ähnlich. Menschenrecht und das Wissen um die transatlantische Welt in der populären Literatur und Journalberichterstattung (1770–1800). In: Laura Auteri/Natascha Barrale/Arianna Di Bella/Sabina Hoffmann (Hg.): Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive. Akten des XIV. IVG-Kongresses. Bd. 4. Bern 2023, 517–526.
Köhler, Sigrid G.: Menschenrecht fühlen, Gräuel der Versklavung zeigen. Zur transnationalen Abolitionsdebatte im populären deutschsprachigen Theater um 1800. In: Dies./Sabina Müller-Mann/Florian Schmidt/Sandra Schnädelbach (Hg.): Recht Fühlen. Paderborn 2017, 63–79.
Rathlef, Ernst Michael Lorenz: Die Mohrinn zu Hamburg. O.O. 1775.
Sutherland, Wendy: Staging Blackness and Performing Whiteness in Eighteenth-Century German Drama. Vermont 2016.
Tautz, Birgit: Die Welt als Intertext. Das britische Kolonialreich und Hamburg im späten 18. Jahrhundert. In: Sigrid Nieberle/Claudia Nitschke (Hg.): Gastlichkeit und Ökonomie. Wirtschaften im deutschen und englischen Drama des 18. Jahrhunderts. Berlin/Boston 2014, 267–291.
Weiershausen, Romana: Zeitenwandel als Familiendrama. Genre und Politik im deutschsprachigen Theater des 18. Jahrhunderts. Bielefeld 2018.
Zeller, Rosmarie: Struktur und Wirkung. Zu Konstanz und Wandel literarischer Normen und Drama zwischen 1750–1810. Bern/Stuttgart 1998.
[1] Im Folgenden wird das M-Wort als M****** angegeben.
[2] Die ‚Rassentheorie‘ wurde wohl besonders in den 1770ern und 1780ern – gleichzeitig zur Entstehungszeit dieses Stücks – als Teil der Anthropologie herausgebildet und verwissenschaftlicht (vgl. Sutherland 2016).
[3] Zum Menschenrecht als Redeform siehe Köhler 2017: 68-69; Köhler 2023: 519-521.
Vorgeschlagene Zitierweise:
Danpakdee, Thanapon: Emilia Galottis Schwarze Schwester? Bürgerliches Trauerspiel goes global! (24.10.2025), https://moment-mal-ndl.de/emilia-galottis-schwarze-schwester-buergerliches-trauerspiel-goes-global/ (Abrufdatum).
DOI: https://doi.org/10.57754/FDAT.yc5pg-a1q68